
Kamrangirchar
Dhaka, Bangladesch. März 2014
Ruckelnd galoppiert die Fahrradrikscha mit mir durch die engen Gassen Dhakas. Ich bin erst vor zwei Tagen in dieser Millionenstadt gelandet, in dessen Adern tagsüber ein unbändiger Verkehr pulsiert und nachts der zusammengefegte Müll vor sich hin schwelt. Zu meinem Glück spricht mein Rikschahfahrer gutes Englisch. Während er mir von seiner Stadt erzählt und dabei unentwegt in die quietschende Pedale tritt, bilden sich feine Schweißperlen zwischen seinen Schulterblättern und benetzen sein helles Hemd. Aus den Gassen werden schnell breitere und staubige Straßen, die uns nach Kamrangirchar führen. Die Sonne scheint gleißend auf uns herab und keine Wolke stellt sich ihr in den Weg.
Die Halbinsel Kamrangirchar liegt im Buriganga-Fluss und ist erst in den letzten Jahrzehnten durch Sedimente und Aufschüttung entstanden. Auf einer Fläche von ca. 3 km² leben und arbeiten geschätzte 400.000 Menschen, viele davon in Wellblechhütten mit Dächern aus Plane und Kunstoffresten. Arbeitende Kinder und Jugendliche gehören ebenso zum Straßenbild wie bunt verhüllte Frauen, die unentwegt Ziegelsteine zu Kieseln zerkleinern. Aus Baracken, Werkstätten und Unterständen dröhnt das Schreddern von Plastikflaschen und das Aufheulen der Holzsägen. Frauen waschen am Flussufer zwischen dem herumfliegendem Müll ihre Wäsche oder pflegen angebautes Gemüse in kleinen umzäunten Beeten. Abseits der unbefestigten Straße entdecke ich ein Dutzend Holzkästen, auf denen leuchtend bunte Formen gleichmäßig aufgereiht sind. Mein Rikschafahrer hält an und sofort habe ich eine kleine Schar Kinder um mich herum, die mir ihre kleinen Hände zum Schütteln entgegenstrecken. Währenddessen bemerke ich, wie die Kästen weggetragen werden. Ich folge ihnen. Durch schmale Wege zwischen Hütten und Werkstätten hindurch gelange ich zu einer Ballonwerkstatt auf einem Hinterhof. Hier stapeln sich die Kästen, auf denen reihenweise bunte Luftballons aufgezogen sind.
„Country name, Country name?“ höre ich von allen Seiten und viele kleine Kinderaugen blicken mich interessiert an. Die Arbeit wird jedoch nicht niedergelegt. Ihre Hände sind stattdessen im Akkord damit beschäftigt die fertigen Ballons von den Formen zu ziehen, zu überprüfen und anschließend nach Farben sortiert, abzupacken. Die Kinder und Jugendlichen sind zwischen 7 und 15 Jahren alt. Sie tauchen die Blöcke mit den Ballonformen für einige Sekunden kopfüber in flüssiges, buntes Gummi. Anschliessend stapeln sie die Blöcke zum Trocknen in Regalen oder legen sie in die Sonne. Der Geruch des Ammoniaks beißt sich in der Nase fest. Als der Chef der Werkstatt merkt, daß die Konzentration der Kinder wegen meiner Anwesendheit nachlässt, bittet er mich zu gehen. Einige Meter weiter betrete ich eine weitere Ballonwerkstatt.
Angestrengt verzieht Rony sein Gesicht, wenn er mit den schweren Formenkästen hantiert. Sein Blick ist desillusioniert und bedrückt, nur sehr selten huscht ein kleines Lächeln über seine kindlichen Wangen. Da er der kleinste und jüngste in dieser Werkstatt ist, scheint es, als wolle er sich seinem Chef gegenüber beweisen. Rony ist nach eigenen Angaben 12 Jahre alt und arbeitet schon vier Jahre in der Herstellung der Luftballons. Zuhause ist er der mittlere von drei Brüdern. Da der Vater schwer krank ist und nicht mehr arbeiten kann, lastet die Verantwortung der Familie auf ihm und seinem größeren Bruder, der Rikscha fährt. Einer von der jungen Männer ist Koshetaloum. Er ist Ronys Cousin und hat ihm diese Arbeit besorgt, als dessen Vater krank wurde. Auch er kommt aus einer großen Familie als Ältester von fünf weiteren Geschwistern. Vor einigen Jahren arbeitete der 30 jährige noch in einer Fabrik, die Verpackungen herstellte, jedoch in einen anderen Distrikt Bangladeschs umzog. Er entschied sich, in Kamrangirchar zu bleiben und fand Arbeit in der balloon factory. „Good work, but only little money“ erklärt er seine Entscheidung, während er den Rauch seiner Zigarette in Richtung Ballons ausstößt. Die giftigen Dämpfe scheinen ihn nicht sonderlich zu interessieren. Nachdem die Gummischicht auf den Formen leicht angetrocknet ist, müssen alle Ballons von unten etwas aufgerollt werden. Dieser Wulst verhindert ein Einreißen des Materials und erleichtert später das Aufblasen. Rony verziert anschließend die Ballons, indem er mit einem Pinsel bunte Farbkleckse drauf tropfen läßt, bevor sie zum Aushärten kopfüber in ein Wasserbecken gehängt werden. Erst dann pudert er sie ein, um ein gegenseitiges Verkleben zu verhindern und zieht sie vorsichtig von ihrer Form. Die Ballons werden abgezählt, eingetütet und treten ihren Weg quer durch Bangladesch an, um Kinder zu erfreuen.
Gegen Abend kehrt langsam Ruhe ein. Koshetaloum deckt die Behältnisse mit dem flüssigen Gummi ab und ein jeder beginnt sich Farbreste und den Schmutz des Arbeitstages von den Händen zu waschen. Auch in den umliegenden Werkstätten verstummen die Maschinengeräusche und das Gebell der erwachenden Hunde wird wieder hörbar. Von der Straße dringt Kinderlachen und freudiges Geschrei herüber. Auch Rony stürmt trotz des langen Arbeitstages nach draußen zu seinen Freunden, die schon Cricket spielen. Unter Jubel und lautem Zurufen hat sich der gesamte Uferbereich in viele kleine Cricketstadien verwandelt, in denen die großen Stars nachgeahmt werden. Jeder dieser Jungen träumt davon, einmal ein großer Cricketspieler zu werden.