
Chittagong – Schlachthof der Schiffe
Chittagong, Bangladesch. Februar 2019
Wie ein gestrandeter Wal liegt der 280 Meter lange Tanker „Tenaga Lima“ am Strand von Faujdarhat, als ein Teil des 41 Meter breiten Hecks mit einem lauten Krachen auf den Strand fällt.
Mitten durch die Ortschaft und parallel zum Meer verläuft der laute und dreckige Highway, der Chittagong mit der Hauptstadt Dhaka verbindet. 15 Kilometer weiter, am anderen Ende des Schiffsschlachthofs, liegt die Kleinstadt Kumira neben einem geschützten Mangrovenwald. Auf der strandabgewandten Seite der Straße erstreckt sich eine der vielen Stahlgießereien, die sich in der Nähe der Abwrackwerften angesiedelt haben. Mehrere tausend Tonnen Stahl werden hier jeden Tag weiterverarbeitet – der Stahl der Schiffe, die zwischen Faujdarhat und Kumira verschrottet werden. Links und rechts vom Highway reihen sich zahllose Hütten als Verkaufsflächen für verschiedene Schiffsbauteile aneinander: von ganzen Maschinenblöcken, Navigationsinstrumenten und Schiffslampen über zurückgelassene Hantelbänke und Gitarren der ehemaligen Besatzungen bis zu Rettungsringen und Feuerlöschern ist hier alles zu finden. Teilweise sind darauf sogar noch die verblichenen Schiffsnamen zu entziffern. Auf Pfählen baumeln makaber aufgehängte Rettungsanzüge zum Verkauf. Ein fast ausgetrockneter Flussarm neben dem Highway ist mit orangefarbenen Rettungsbooten verstopft.
Das Abwracken der Schiffe begann in Bangladesch in den sechziger Jahren, als in einem schweren Sturm der griechischer Frachter „M D Alpine“ auf dem Strand vor Chittagong auf Grund lief. Da es nicht gelang, das Schiff wieder freizubekommen, gab sein Besitzer es auf. Erst Jahre später wurde es von der stahl verarbeitenden Firma „Chittagong Steel House“ gekauft und über die Jahre stückweise zerlegt. Während des Unabhängigkeitskrieges 1971 wurde das pakistanische Schiff „Al Abbas“ vor der Küste schwer beschädigt. 1974 kaufte es die „Karnafully Metal Works Ltd“ und ließ es ebenfalls an der Küste vor Chittagong abwracken.
Bis dahin wurden Schiffe umständlich und teuer in den Häfen der Industrieländer recycled. Das Abwracken in Bangladesch wurde schnell lukrativ. Umwelt- und Arbeitsschutzbestimmungen gab es nicht, dafür aber millionenfach billige Arbeiter. Auch die einzigen natürlichen Voraussetzungen, ein hoher Gezeitenhub und weicher Grund, waren gegeben. Größere Investitionen waren für den Einstieg in die Schiffsverwertung nicht nötig. In den achtziger Jahren entstanden auch in Alang in Indien und in Gadani in Pakistan ähnliche Strandabschnitte zur Schiffsabwrackung.
Hat ein Schiff das Ende seiner Lebenszeit erreicht, wird es häufig an Schrotthändler-Firmen weiterverkauft. Damit umgehen die einstigen Besitzer jegliche Verantwortung für den weiteren Verbleib des Schiffes oder für dessen Entsorgung.
Nach Analysen der „NGO Shipbreaking“ fuhren 2018 mehr als 60 Prozent aller Schiffe, die zum Verschrotten an den Küsten Süd-Asiens landeten, unter sogenannten Billig- oder Gefälligkeitsflaggen, zu denen Inselstaaten wie die Komoren, Niue, Palau und St. Kitts & Nevis gehören. Diese Flaggen sind bei Schrotthändlern besonders beliebt, weil sie wenigen bis gar keinen Bestimmungen des Internationalen Seerechts unterliegen. Sie werden üblicherweise nicht während des operativen Schiffsgebrauchs benutzt, sondern unterbieten sich gegenseitig in sogenannten „Letzte Fahrt Rabatten“. Oft wird ein Schiff wenige Wochen vor der letzten Reise noch einmal ausgeflaggt und umgemeldet.
In den drei südasiatischen Abwrackgebieten Indiens, Bangladeschs und Pakistans wurden 2018 zusammen 90,4 Prozent der weltweiten Abwracktonnage verschrottet. Pro Leergewicht Tonne Stahl bekommt man hier knapp 450 US-Dollar. Bangladesch bezieht 20 Prozent seines von der eigenen Industrie benötigten Stahls aus den Abwrackwerften. Indien immerhin noch zehn Prozent.
Als Antwort auf die anhaltende Kritik hat die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, im Jahr 2009 das sogenannte „Hongkong Übereinkommen“ verabschiedet, eine Vereinbarung für weltweite Verbesserungen für umweltfreundliches Recycling von Schiffen und für die Arbeitsbedingungen in den Abbruchwerften bzw. Abbruchbetrieben, so Ralf Nagel, Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied im Verband Deutscher Reeder (VDR), die das Übereinkommen unterstützen.
Doch auch 10 Jahre nach ihrer Verabschiedung ist die Konvention noch nicht in Kraft. Immerhin zehn Staaten, die gut 25 Prozent der Welttonnage repräsentieren, haben die Konvention bislang (Stand Februar 2019) ratifiziert. Deutschland hat eine Ratifikation im letzten Herbst angekündigt.
Jedoch haben innerhalb der IMO diejenigen Länder die meisten Stimmen, die die größte Anzahl an Schiffen unter ihrer Flagge haben. So bestimmen umgekehrt die Schiffsinhaber durch die Wahl der Flagge auch, welches Land sie in der IMO vertritt. Nach einem Bericht der „Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung“ sind fast 73 Prozent aller Schiffe unter einer Flagge unterwegs, die nicht mit der Herkunft des wirtschaftlichen Eigentümers übereinstimmt. Daraus ergibt sich eine große Diskrepanz zwischen den Ländern, in denen die Besitzer der Schiffe gemeldet sind, und den Flaggenländern, die die regulatorische Kontrolle über die Flotte ausüben.
Während Länder wie Griechenland, Japan, China und die USA zu den führenden Schiffseigentümern gehören, sindPanama, die Marshall-Inseln und Liberia die Länder mit den meisten Flaggen-Registrierungen und damit auch mit den meisten Stimmen in der IMO.
Währenddessen hat die Europäische Union eigene Regelungen erlassen. So dürfen seit Ende letzten Jahres in der EU-geflaggte Schiffe nur noch auf solchen Werften recycled werden, die EU-Standards entsprechen und auf einer europäischen Liste geführt werden. Alle diese Werften liegen in Europa und noch wird indischen Betrieben die Eintragung auf diese Liste verwehrt. Eine aus der Sicht des VDR sehr schwierige Entscheidung. „Indien hat viele Fortschritte gemacht. Die gilt es anzuerkennen und Anreize zu setzen, dass auch andere Betriebe diesem Beispiel folgen“ so Ralf Nagel weiter.
Laut der Jahresauflistung der „NGO Shipbreaking“ waren 2018 lediglich zehn von weltweit 746 verschrotteten Schiffen unter einer europäischen Flagge nach Süd-Asien unterwegs. Das sind gerade einmal 1,34 Prozent, auf welche die obige EU-Regelung zuträfe. 2017 waren es ganze zwölf von 837 Schiffen. Damit geht die Regelung der EU-Kommission am eigentlichen Problem vorbei, zeigt aber immerhin auf, dass es längst Alternativen zur Abwrackung an den Stränden Süd-Asiens gibt.
Im November 2018 landete die „Rainbow Warrior“, ein ehemaliges Schiff der Umweltschutzorganisation Greenpeace, zum Abwracken am Strand nördlich von Chittagong. Dieses Vorgehen wurde öffentlich kritisiert, da Greenpeace die Umwelt- und Sozialbedingungen der Abwrackwerften in Süd-Asien immer kritisiert hatte. Greenpeace selbst bedauerte im Nachgang das Vorgehen.
Unweit der knapp 150 Schiffswracks, die in Chittagong am Strand liegen, sitzt der 35-jährige Kamal Dhar in seiner kleinen Hütte aufrecht auf der Bettkante. In der Ecke stehen ein alter Rollator und ein Paar Achselstützen. Nach einem Unfall vor 5 Monaten wurde Kamal der rechte Unterschenkel amputiert. Damals kam ein Stapel aufeinander gelegter Stahlplatten ins Rutschen, zerquetschte seinen rechten Unterschenkel und brach ihm den linken Oberschenkelknochen. Die Kosten für die Krankenhausbehandlung von Kamal sowie für den Rollator und die Stützen hat noch sein Arbeitgeber bezahlt. „Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat mich mein Arbeitgeber gekündigt. Er sagte, ich sei jetzt für ihn nutzlos. Und so fühle ich mich auch“ erzählt Kamal und fügt hinzu: „Der Rollator ist auf dem unwegsamen Gelände durch das Dorf völlig unbrauchbar und nach kurzer Zeit mit den Stützen schmerzen mir die Schultern“. Manche Arbeitgeber haben angefangen, Geld zur Kompensation von Unfällen zurückzuhalten, berichtet Kamal weiter. Allerdings ziehen sie dieses Geld direkt vom Verdienst der Arbeitnehmer ab, was zu viel Unmut bei den gesunden und unverletzten Arbeitern geführt hat und sich deshalb nicht durchsetzen konnte.
Nach Angaben der „NGO Shipbreaking“ sind in 2018 20 Arbeiter bei Abwrackarbeiten in Chittagong ums Leben gekommen , zwölf weitere wurden schwer verletzt. Zahlreiche getötete und verletzte Arbeiter sind auch aus Indien und Pakistan dokumentiert.
Die meisten Unfälle ereignen sich durch herabstürzende Stahlteile und Verbrennungen. Seit Jahren steht die ganze Branche wegen fehlendem Arbeitsschutz und der Nichteinhaltung von Umweltgesetzen in der Kritik. Was nicht recycled werden kann, wird oft abgefackelt oder einfach ins Meer gekippt. So ist der Strand nördlich von Chittagong mit Asbest, Schwermetallen, Altöl und vielen weiteren Schadstoffen stark kontaminiert. „Wir müssen jedes Jahr weiter rausfahren und fangen trotzdem kaum noch etwas“ erzählt Fischer Shamir, während er und seine Kollegen drei Kilometer von der Küste entfernt ihr Netz und einige Reusen ins Boot hieven. Die Ausbeute ist auch heute wieder bescheiden: wenige Krabben und viel Plastik.
Auf die Frage an Kamal, was seine Regierung für ihn unternimmt, antwortet er trocken: „Letztes Jahr hat sie Chittagong in Chattogram umgetauft, den alten bengalischen Namen.“ Dann zuckt trotzdem noch ein Lächeln über sein Gesicht: „Ich habe Kontakt mit einer NGO in Chittagong aufgenommen, die mir bei einer neuen Prothese behilflich sein wird. Dann kann ich endlich wieder selbstständiger sein.“